Gruppensex als Sport, Verhütung wird nicht praktiziert und je mehr Partner desto besser. Das ist die Quintessenz des neuen Buches "Deutschlands sexuelle Tragödie", das erschreckende Geschichten über die Sexualität von armen Kindern in Berlin dokumentiert. Wissenschaftliche Studien fehlen allerdings.
In seinem Buch „Sexualität und Wahrheit“ stellte der französische Philosoph Michel Foucault 1976 eine denkwürdige These auf: In der christlich-abendländischen Geschichte wurde die Sexualität nur scheinbar unterdrückt. In Wahrheit sei es schon in den mittelalterlichen Beichtkatalogen immer nur darum gegangen, das Reden über Sex anzuheizen, den „Diskurs“ systematisch zu fördern und zu steuern.
Diese Woche wurde das Buch „Deutschlands sexuelle Tragödie: Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“ vorgestellt – ein Buch, das im Kern eine ähnliche These vertritt: In unserer freizügigen, scheinbar enttabuisierten Gesellschaft ist es zum Tabu geworden, über die Schattenseiten der sexuellen Freizügigkeit zu sprechen – und die sehen so aus: Mädchen haben im Schnitt zwischen elf und zwölf Jahren das erste Mal Geschlechtsverkehr, Jungen nur ein Jahr später, Aufklärung findet über Pornos statt, die Pärchen auf dem Schulhof küssen sich nicht mehr, weil sie das im Porno nicht gezeigt bekommen, Zwölfjährige haben Gruppensex, der Partnerwechsel wird unter Teenagern zur sportlichen Herausforderung, Verhütung spielt kaum eine Rolle.
Dies ist der erschreckende Befund der Autoren Bernd Siggelkow, Jugendpastor und Gründer des Berliner Jugendwerks „Arche“, und des Sperchers der Einrichtung, Wolfgang Büscher. Im Berliner Problem-Bezirk Hellersdorf sprachen sie mit mehr als 80 Jugendlichen über Pornografie, sexuelle Erfahrungen und die Begebenheiten im elterlichen Schlafzimmer. Im Buch werden die Erlebnisse von 30 Jugendlichen nacherzählt.
Da berichtet beispielsweise die 17-jährige Jessie, dass sie schon mit 51 Jungs geschlafen hat, dass sie mit ihrer knapp 15 Jahre älteren Mutter nachts durch Klubs und Kneipen zieht, um „Typen kennenzulernen“, da erzählt der 16-jährige Alex, dass er sich immer einen Pornofilm anschauen muss, bevor er mit seiner Freundin schläft, und der elfjährige Rico berichtet, dass er zu Hause regelmäßig das Liebesleben seiner Mutter beobachtet.
Die Jugendlichen in Deutschland, so Siggelkow und Büscher, seien durch einschlägige Internetseiten, Filme und nicht zuletzt durch das enthemmte Verhalten ihrer Eltern von „sexueller Verwahrlosung“ bedroht. Viele Kinder, vor allem die der „sogenannten Unterschicht“, hätten schon früh ein Drehbuch zum Sex im Kopf, der Sex werde zur Droge, „die fehlende Liebe und Geborgenheit und Werte ersetzt“. Perspektivlosigkeit, das Gefühl, nichts wert zu sein, befördere den Trend, Bestätigung in der Sexualität zu suchen, erläutert Siggelkow.
Zudem habe sich die Rolle der Familie während der letzten Jahre stark verändert. „Die ökonomische Bindung spielt kaum noch eine Rolle, viele leben von staatlichen Transferleistungen, die Kinder erleben zu Hause häufigen Partnerwechsel.“ Der Jugendpastor weiß von so mancher Wohnung im Plattenbau zu berichten, in der im Hintergrund der Porno läuft, als wäre es das Normalste der Welt. Beim Aufklärungsunterricht in der Schule könnten die Jugendlichen heute nur noch lachen. Während die Pornografie zur Leitkultur der Unterschicht avanciere, hinke die Wissenschaft der Wirklichkeit hinterher. Es gebe keine aktuelle wissenschaftliche Studie über die Auswirkung von Pornografie, kritisiert Siggelkow.
Rast hier, wie Verleger Ralf Markmeier betonte, „eine Katastrophe auf uns zu“? Zurzeit lässt sich ein Trend zur Verrohung statistisch jedenfalls nicht nachweisen. So ist die Zahl der Teenangerschwangerschaften und -abtreibungen in Deutschland rückläufig. Auch die Vorstellung, dass Jugendliche immer früher Sex hätten und bei der Verhütung unvorsichtiger würden, ist durchaus umstritten.
Eine Studie des Meinungsforschungsinstituts „iconkinds & youth“ im Auftrag der Jugendzeitschrift „Bravo“ aus dem Jahr 2006 ergab, dass die Mehrheit der Jugendlichen das „erste Mal“ zwischen 15 und 17 Jahren erleben, fast 90 Prozent verhüteten regelmäßig. Dass also die 30 im Buch geschilderten Geschichten aus Hellersdorf tatsächlich Beleg einer sich abzeichnenden massenhaften „sexuellen Verwahrlosung“ sind, ist noch nicht bewiesen.