Unter der als Sichtschutz aufgehängten Decke mit der spiegelverkehrten Aufschrift „Justiz“ baumeln zwei Füße in blauen Turnschuhen etwa 20 Zentimeter über dem braunen Linoleumboden. Das bedrückende Foto zeigt die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, die sich am 18. Oktober 1977 in ihrer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart Stammheim erhängte. 30 Jahre lag es zusammen mit rund 400 weiteren Bildern in einer Reisetasche mit Schottenmuster, die ein Polizeifotograf bei sich im Keller aufbewahrte. Die Fragen rund um den Tod der RAF-Häftlinge in Stammheim beantwortet es nicht.
Die Polizeifotos von Ensslin waren der breiten Öffentlichkeit bisher ebenso wenig bekannt wie die anderen Bilder, die am Dienstag von der „Stuttgarter Zeitung“ veröffentlicht wurden. Ein Foto zeigt den toten Andreas Baader auf dem Boden liegend, den Kopf in einer großen Blutlache. Er hatte sich mit einer Pistole ins Genick geschossen. Carl-Jan Raspe schoss sich mit einer zweiten Pistole in die rechte Schläfe und starb daran später im Krankenhaus.
Die Abzüge stammen aus der Hinterlassenschaft eines Polizeifotografen. Hinterbliebene entdeckten sie zufällig beim Entrümpeln. Offenbar hatte der Mann die Kopien nach je einem Satz für die Bundesanwaltschaft und das Landeskriminalamt für sich selbst angefertigt. Die Bilder ziehen Zeitzeugen zurück in das bis heute unvollständig geklärte Rätsel um den Tod der RAF-Terroristen mitten im am schärfsten gesicherten Gefängnis der Republik.
Die erregte Stimmung, die damals in Deutschland herrschte, ist mit Worten kaum zu beschreiben: In den Tagen zuvor waren Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt worden, um die Führungsriege der RAF freizupressen. Vor dem schweren Rolltor des Stammheimer Gefängnisses plädierten Bürger in Mikrofone und Kameras unverblümt für die standrechtliche Erschießung der Gefangenen. Diesen Gedankenspielen machten allerdings die Häftlinge selbst ein Ende: Sie begingen Selbstmord, kurz nachdem ein Kommando der GSG-9 die „Landshut“ in Mogadischu gestürmt und alle Geiseln befreit hatte.
Die 400 Fotos, die nun der Stuttgarter Staatsanwaltschaft übergeben wurden, sind Beweisstücke eines Ermittlungsverfahrens, das belegt, was von den übrigen RAF-Genossen lange bestritten wurde: Die Stammheimer wurden nicht vom Staat liquidiert sondern begingen Selbstmord. Einzig Irmgard Möller überlebte ihre Messerstiche in die Brust schwer verletzt.
Zur Aufklärung der Frage, ob die Behörden durch Lauschaktionen von den Selbstmordplänen wussten und sie gleichwohl nicht verhinderten, tragen die Fotos der Stuttgarter Staatsanwaltschaft zufolge indes nicht bei. Die seit Monaten laufende Prüfung, ob sich damals Beamte durch Wegsehen oder Weghören womöglich der Tötung durch Unterlassung strafbar machten, brachte bereits im vergangenen Herbst das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ ins Rollen.
Der „Spiegel“-Bericht lässt vermuten, dass die Gefangenen auch in jener Nacht abgehört wurden und sich die Verabredung zum Selbstmord womöglich auf Tonbandprotokollen finden könnte. Insgesamt sieben Zellen waren demnach vom Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst verwanzt worden. Zudem sprächen Indizien dafür, dass Beamte das von den Gefangenen gebastelte elektrische Kommunikationssystem bewusst übersehen hatten, um es anzuzapfen. Fragen dazu wurden dem „Spiegel“ zufolge vom Bundesinnenministerium und den baden-württembergischen Behörden mit Verweis auf die Geheimhaltung bislang alle abgeschmettert.