Borkum/Emden (dpa) - Es hätte ein gemütlicher Tagesausflug zur Insel Helgoland werden sollen - doch auf ihrer Rückreise erlebten die 357 Fahrgäste an Bord der Fähre «Polarstern» wahre Schrecksekunden.
Riesige Wellen hatten einen Teil der Frontreling losgeschlagen und in das Panoramafenster katapultiert. Glassplitter und Wasser schossen weit ins Innere des Hochgeschwindigkeits-Katamarans. Bei dem Unglück wurden am Montagabend 24 Passagiere verletzt.
Bei ihnen handelt es sich überwiegend um Urlauber, viele aus Nordrhein-Westfalen. Laut Polizei ist ein Reisender in «kritischem Zustand». Ermittler untersuchen nun das beschädigte Schiff. Fest steht bereits: Die vorhergesagte Wellenhöhe war das absolute Limit, bei dem der Katamaran noch auslaufen durfte.
«Wie diese Reling abreißen konnte, wissen wir nicht», sagte Bernhard Brons, Vorstand des Fährschiff-Unternehmens Reederei AG Ems. Von der Brücke aus sei das Decksgeländer nicht zu sehen gewesen, erst die Besatzung habe den Schaden gemeldet. Hinter dem zerborstenen Fensterteil, das nur 60 mal 80 Zentimeter groß sei, hätten sich «Dutzende» Passagiere befunden. Die erste Sitzreihe liege nur zwei Meter hinter der Glasfront. «Es hat Schreie gegeben», berichtete Knut Gerdes, Chef des seemännischen Personals der AG Ems. Er hatte mit dem erst 27 Jahre alten Kapitän der «Polarstern» kurz nach den Schrecksekunden telefoniert. «Wir haben da ein Problem», soll der erste Satz der Crew gelautet haben.
An Bord sei keine Panik ausgebrochen, betont Gerdes. «Menschen geraten in Panik, wenn sie keinen Ausweg mehr aus einer Situation sehen.» Das sei nicht der Fall gewesen, die zehnköpfige Besatzung sei geschult für solche Szenarien und habe die Gäste «ruhig und geordnet» aus der Gefahrenzone gebracht. Wie sich dabei viele Passagiere teils erhebliche Verletzungen zuziehen konnten, kann die Reederei nicht erklären. Nach Angaben einer Ärztepraxis auf der Insel Borkum, die der Katamaran nach dem Unglück für die Versorgung der Verletzten ansteuerte, leiden drei Passagiere an einem Schädelhirntrauma. Der «überwiegende Teil» der Behandelten habe Platzwunden gehabt. Ein Notarzt war an Bord und leistete Erste Hilfe.
Reederei-Chef Brons sagte, der Katamaran habe Helgoland «auf Grundlage der Wetteranalyse» bereits 40 Minuten eher verlassen, als ursprünglich im Fahrplan vorgesehen. Das sei geschehen, um beim Ansteuern der Insel Norderney - dem ersten Ziel - eine günstigere Tide zu haben, die den schweren Seegang nicht noch verstärkt. Der Wetterbericht habe Windstärke sieben und bis zu zweieinhalb Meter hohe Wellen angekündigt. Nach Angaben des Personalchefs Gerdes ist diese Höhe der Wogen die Höchstgrenze für ein Auslaufen. «Das war eine Ermessensentscheidung.» Der Kapitän sei auf der «Polarstern» bereits als Offizier gefahren und kenne Schiff und Strecke genau.
Unklar ist auch noch, warum die Rettungskräfte erst knapp zwei Stunden nach dem Unglück alarmiert worden waren. Bei der Leitstelle auf Borkum ging der Notruf um 19.39 Uhr ein - das Fenster war bereits gegen 18 Uhr zerborsten, wie die AG Ems selber bestätigt. Als einer der ersten Helfer sichtete Notarzt Matthias Ruppert (40) im ADAC- Rettungshubschrauber «Christoph 26» den Katamaran gegen 20.30 Uhr. «Weil wir nicht genau wussten, wie weit der Katamaran noch auf See war, sind wir mit Winde gestartet, um notfalls Verletzte über ein Seil an Bord ziehen zu können», berichtete der Mediziner. Zu diesem Zeitpunkt war das Fährschiff zehn Minuten von Borkum entfernt.
«Dadurch hatten wir etwas Zeit, zusammen mit den anderen Rettungskräften den Einsatz vorzubereiten», sagte Ruppert. Auch drei Ärztekollegen von der Insel kamen zur Unterstützung.» Die Leichtverletzten wurden in einem Bus des Roten Kreuzes behandelt. «Viele von ihnen hatten Schnittwunden und leichte Kopfverletzungen, bei einigen bestand Verdacht auf Knochenbrüche», sagte Ruppert. Zwei Schwerverletzte seien per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht worden. Der Zustand eines zunächst stationär auf Borkum behandelten Passagiers hat sich nach Angaben der Wasserschutzpolizei in Emden wenige Stunden nach dem Unglück derart verschlechtert, dass auch er ausgeflogen werden musste. Sein Zustand sei «kritisch».