In keinem anderen OECD-Land hat sich die Schere zwischen Arm und Reich schneller geöffnet als in Deutschland. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die die Entwicklung von 2000 bis 2005 beobachtet hat. Wie sich die Situation nach 2005 entwickelt hat, darüber streiten die Experten allerdings noch.
Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in Deutschland seit der Jahrtausendwende im internationalen Vergleich deutlich stärker geöffnet. Die Einkommensunterschiede und der Anteil armer Menschen an der Bevölkerung nahmen in der Bundesrepublik schneller zu als in den meisten anderen Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Dies geht aus der OECD-Studie „Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?“ hervor. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 habe dabei die Zunahme in den gesamten vorherigen 15 Jahren übertroffen.
Während die Armutsquote in Deutschland Anfang der 90er-Jahre noch rund ein Viertel geringer war als im OECD-Mittel, liegt der Anteil der Menschen, die in relativer Armut leben, der Studie zufolge 2005 knapp über dem OECD-Schnitt. Auch die Einkommensunterschiede, die im internationalen Vergleich lange Zeit eher gering gewesen seien, hätten fast das OECD-Niveau erreicht. Abgesehen von Frankreich, Spanien, Irland, Griechenland und der Türkei hat in allen 30 OECD-Ländern die Einkommensungleichheit zwischen 1985 und 2005 zugenommen, heißt es in der Untersuchung.
Die OECD macht mehrere Entwicklungen für die Zunahme von Einkommensungleichheit und Armut in Deutschland verantwortlich. Zum einen haben sich die Löhne und Gehälter drastisch auseinander bewegt. Zum anderen trage in der Bundesrepublik die Arbeitslosigkeit mehr als in den meisten OECD-Ländern zur ungleichen Einkommensverteilung bei: Zwischen 1995 und 2005 sei der Anteil der Menschen, die in Haushalten ohne jedes Erwerbseinkommen leben, auf 19,4 Prozent gestiegen - der höchste Wert innerhalb der OECD.
Schließlich haben der Studie zufolge Veränderungen bei der Haushaltsstruktur zu mehr Ungleichheit in Deutschland geführt. In den vergangenen Jahren habe sich die Zahl der Single-Haushalte und Alleinerziehenden deutlich erhöht – und kleinere Haushalte benötigten ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als größere, um denselben Lebensstandard zu erreichen.
Vermögen sind noch ungleicher verteilt
Noch ungleicher verteilt sind die Vermögen. Die obersten zehn Prozent besitzen etwa die Hälfte des Gesamtvermögens – die einkommensstärksten zehn Prozent erzielen dagegen nur etwas mehr als ein Viertel des Gesamteinkommens. Deutlich zugenommen hat den Angaben nach die Kinderarmut. 1985 lebten noch sieben Prozent der Kinder in einem Haushalt, der weniger als die Hälfte des deutschen Durchschnittseinkommens bezog. 2005 seien es bereits 16 Prozent gewesen. Bei Kindern von Alleinerziehenden weise Deutschland nach Japan, Irland, den USA, Kanada und Polen die höchste Armutsquote auf. Dagegen blieb die Armutsrate älterer Menschen stabil bei rund neun Prozent, während sie im OECD-Durchschnitt 13 Prozent beträgt.
Langzeitarmut ist der OECD zufolge dagegen ein Phänomen, das in Deutschland seltener als anderswo auftritt. Etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen, gelten also über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren als arm. Nur in Dänemark und den Niederlanden sei der Anteil noch geringer, der OECD-Schnitt liege doppelt so hoch. Auch materielle Entbehrungen seien in Deutschland seltener als in vielen anderen Ländern. Etwa acht Prozent der Bevölkerung müssten deutliche Abstriche am Lebensstandard machen – im OECD-Schnitt seien es zwölf Prozent.
Wie geht es nach 2005 weiter?
Über die Entwicklung nach 2005 gibt es unterschiedliche Standpunkte. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sind die Einkommen nach 2006 noch weiter auseinander gelaufen. Ein Jahr später, angeregt durch den konjunkturellen Aufschwung, habe sich die Lage wieder verbessert. „Was in absoluten Zahlen bedeutet, dass 1,2 Millionen Menschen in Deutschland aufgrund der verbesserten Arbeitsmarktsituation nicht mehr von Armut betroffen sind“, sagte Markus Grabka vom DIW.
Die konjunkturelle Entwicklung stelle sich seit Mitte 2008 aber wieder deutlich negativer dar. Die Arbeitsmarktstrukturen hätten sich in den vergangenen zehn Jahren mit mehr Leih- und Zeitarbeit sowie geringfügiger Beschäftigung stark verändert. Diese Beschäftigten „werden jetzt im Rahmen des konjunkturellen Abschwungs relativ schnell aus dem Arbeitsmarkt hinauskatapultiert werden. Was unserer Einschätzung nach das Ausmaß an Einkommensarmut für das Jahr 2009 wieder steigen lässt“, sagte Grabka.
Anderer Ansicht ist einer der Hauptautoren der OECD-Studie, Michael Förster. Er erwartet für Deutschland allerdings ein vorläufiges Ende des Trends zu mehr Ungleichheit. „Im Jahr 2007 erwarten wir einen Rückgang der Unterschiede bei Einkommen und Armut“, sagte Förster in Berlin. Grund dafür sei vor allem die verbesserte Lage am Arbeitsmarkt.