Regio
Aktuell
Donnerstag, 21.11.2024, 09:57
Willkommen Gast | RSS

 Tipps, Trends und Aktuelles aus der Region

Hauptseite Registrieren Login
Menü
Kategorien der Rubrik
Regionews [354]
Globalnews [590]
Sport [14]
Mitteilungen [44]
Statistik

Insgesamt online: 54
Gäste: 54
Benutzer: 0
Hauptseite » 2008 » Oktober » 8 » Hartz-IV-Klagewelle überflutet Gerichte
Hartz-IV-Klagewelle überflutet Gerichte
08:47
www.welt.de - 08.10.2008 01:14
 

Tausende Hartz-IV-Empfänger ziehen vor Gericht. Sie fordern mehr Geld für die Stromrechnung oder neue Kühlschränke. Die Richter müssen ausbaden, dass die Regierung bei der Arbeitsmarktreform geschlampt hat – doch werden der Klagewelle kaum noch Herr. In jedem dritten Fall geben sie den Klägern recht.

Auf den ersten Blick scheint der Fall eindeutig zu sein. Die Klägerin hat monatelang ihre Stromrechnung nicht bezahlt; alle Mahnungen ignorierte sie. Und jetzt, da sich die Schulden türmen und die Stadtwerke das Licht abdrehen wollen, stellt sie sich hin und verlangt, dass die Behörde einspringt. Richterin Kirsten Gudat muss nicht erst nachblättern, um zu wissen, dass das im Sozialgesetzbuch II so nicht vorgesehen ist. Hartz-IV-Empfänger müssen ihren Stromabschlag aus dem Regelsatz bestreiten. Doch neben dem Gesetzestext ist da noch das Leben. Und das „spielt bunt“, wie sie am Sozialgericht Lübeck gern sagen. Um das Wort zu vermeiden, das es meistens treffender beschreiben würde: traurig.

Am 1. Januar 2005 trat in Deutschland Hartz IV in Kraft. Kaum eine Reform der deutschen Politik in den vergangenen Jahren hat das Land so polarisiert. Der anhaltende Protest gegen die faktische Kürzung des Arbeitslosengeldes trieb Gerhard Schröder 2005 dazu, vor Ende der Legislaturperiode neu wählen zu lassen. Heute, bald vier Jahre später, feiert die Linkspartei Erfolge auf Kosten der SPD, indem sie den Dämon Hartz IV beschwört. Jenseits dieser politischen Scharmützel wird in den Gerichtssälen der Republik erbittert mit der Reform von Rot-Grün gerungen. Deutsche Sozialgerichte kommen mit der Bearbeitung nicht mehr nach. Obwohl das Gesetz mehrfach nachgebessert wurde, klagen Hartz-IV-Empfänger zu Tausenden gegen die Bescheide der Arbeitsgemeinschaft von Sozialamt und Arbeitsagentur (Arge).

Landauf, landab wurden kurzfristig neue Richterstellen geschaffen, aber das reicht nicht aus. Allein im vergangenen Jahr wurden bundesweit über 99.000 Klagen gegen Hartz IV eingereicht. In diesem Jahr werden, rechnet man die bereits aufgelaufenen Fälle hoch, fast 130.000 neue dazukommen.

„Das ist keine Flut“, sagte unlängst ein Jurist auf einer Tagung zum Thema. „Denn nach einer Flut käme Ebbe.“ An den Sozialgerichten steigt der Pegel immer höher.

Es geht zumeist um scheinbar banale Fälle wie bei der Anhörung der säumigen Stromkundin. Richterin Kirsten Gudat entscheidet, dass die Arge der Hartz-IV-Empfängerin das Geld für den Strom einmalig vorschießen soll, als Darlehen. Schon weil eine minderjährige Tochter mit im Haushalt lebt, selbst schwanger. „Das Sozialgesetzbuch II sieht Ausnahmeregelungen für Fälle vor, in denen akut Wohnungslosigkeit oder eine vergleichbare Notlage droht. Wenn eine schwangere Frau im Haushalt lebt und die Stadtwerke den Strom abstellen, ist das für mich in eine vergleichbare Notlage.“ Fall entschieden.

Notfälle sind für die 31-jährige Juristin die Regel. Mit Inkrafttreten der Arbeitsmarktreform wurde sie 2005 als Richterin eingestellt. Damals ahnte man schon, dass Mehrarbeit auf die Sozialgerichte zukommen würde. „Hartz IV regelt die Grundsicherung. Deshalb geht es in den Verfahren für die Betroffenen sehr schnell ums Existenzminimum“, sagt Gudat. Sie hat regelmäßig mit Auseinandersetzungen zu tun, in denen es um Streitwerte von hundert oder zweihundert Euro geht. Bagatellfälle, die in keinem Verhältnis stehen zu den Kosten, die sie verursachen. Doch für Menschen, die von 351 Euro im Monat zu leben versuchen, kann so eine Summe darüber entscheiden, ob einer so gerade noch mal die Kurve kriegt oder ob das Licht ausgeht.

So wird das Büro von Richterin Gudat zu einer Art Notaufnahme des Sozialstaats. 200 Hartz-IV-Fälle laufen innerhalb eines Jahres auf ihrem Schreibtisch auf. Ein alleinstehender Arbeitsloser droht seine Wohnung zu verlieren. Er zahlt 500 Euro Miete, die Arge hält bloß 250 Euro für angemessen. In den Verwaltungsvorschriften steht: 50 Quadratmeter. Aber was dürfen die kosten? Gudat zieht den Mietspiegel zurate, doch damit ist es nicht getan. „Es muss ja auch tatsächlich eine anmietbare Wohnung zu dem akzeptierten Preis geben. Der Wohnungsmarkt in Lübeck ist ein anderer als der in Ostholstein.“ In der Praxis bedeutet das, dass die promovierte Volljuristin nicht selten für andere im Internet nach Immobilienanzeigen sucht.

Der Teufel steckt im Detail. Die juristische Übersetzung dieser Volksweisheit heißt Kasuistik. Bei jedem strittigen Bescheid muss der Einzelfall betrachtet werden. Das ist es, was Hartz IV auch nach fast vier Jahren so kompliziert macht. Die Argen, personell oft selbst schwach besetzt, haben es regelmäßig mit komplexen Verhältnissen zu tun.

Unter einem Dach leben oft diverse Leistungsempfänger aller Altersstufen, bei denen häufig unklar ist, wer mit wem in welcher Beziehung steht. Verdient nur einer davon ein paar Euro über den Freibetrag hinaus dazu, kann das die Ansprüche aller ändern. Erstmals aufgedröselt werden die Verhältnisse oft vor Gericht.

Viele Urteile müssen schnell gefällt werden

Und es eilt fast immer. Wer vors Sozialgericht zieht, hat keine Rücklagen. Das Hartz-IV-System will es so, dass Leistungen nur bezieht, wer zuvor sein gesetzlich nicht geschütztes Vermögen aufgebraucht hat. Wenn nun Waschmaschine und Kühlschrank gleichzeitig den Geist aufgeben, dann fehlt das finanzielle Polster. Dann sagt die Arge zwar: Nach der Erstausstattung müssen Haushaltsgeräte aus dem Regelsatz finanziert werden. Doch die Praxis sagt: Das kann kein Mensch. Und Richterin Gudat hat wieder eine grüne Akte mehr auf dem Schreibtisch, auf der ein „Eilt“-Vermerk klebt. Denn einen Kühlschrank braucht auch ein Hartz-IV-Empfänger zum Leben.

Mehr als ein Drittel aller Hartz-IV-Verfahren, die im vergangenen Jahr am Sozialgericht Lübeck eingereicht wurden, waren Eilverfahren. „Das sind Akten, die bei uns nicht kalt werden“, sagt Gerichtsdirektor Heinz-Dieter Klingauf. Viele Verfahren werden am Schreibtisch innerhalb weniger Stunden abgehandelt, Erörterungstermine auf Zuruf mit den Amtsvertretern anberaumt. „Spätestens nach zwei Monaten sind die Eilverfahren vom Tisch“, sagt Klingauf.

Die Kehrseite: Vor lauter Eilsachen droht an den Sozialgerichten alles andere liegen zu bleiben. Das Lübecker Sozialgericht etwa wurde von neun auf 16 Richterstellen aufgestockt. Trotzdem warten in Lübeck bereits einige Hundert Hartz-IV-Klagen aufs Hauptverfahren, weil immer wieder Eilsachen die Richter blockieren. Und das Gericht hat neben Hartz-IV-Verfahren auch noch andere Aufgaben.

Justizministerium unterschätzte Lage dramatisch

Das Ausmaß der Klagewelle wurde von den deutschen Justizministerien dramatisch unterschätzt. Das Gesetz war neu, es gab keine Rechtsprechung, und viele Detailfragen waren ungeklärt. In den ersten Monaten mit Hartz IV im Jahr 2005, erinnert sich Richterin Gudat, „haben wir den ganzen Tag nur Beschlüsse verfasst.“

In der ersten Welle ging es um die Frage, wer überhaupt hilfsbedürftig ist, um Bedarfsgemeinschaften und fehlerhafte Bescheide. Nach einem halben Jahr folgte die zweite Welle, in der Hartz-IV-Empfänger aufgefordert wurden, aus ihren zu teuren Wohnungen auszuziehen. Die dritte Welle brachten die Sanktionen gegen Leistungsempfänger, die sich nicht an Meldeauflagen hielten oder keine Anstrengungen zur Suche eines Arbeitsplatzes unternahmen.

Anfangs glaubte man noch, die Lage würde sich nach anfänglichen Wirren lichten. Doch jede Nachbesserung des Gesetzgebers brachte neuen Klärungsbedarf. Das Ganze wurde noch verworrener und undurchsichtiger und ermutigte die Leute noch mehr dazu, vor Gericht zu gehen. In Schleswig-Holstein, wo ursprünglich alle Verfahren zentral am Sozialgericht Schleswig erledigt werden sollten, stürzt sich mit Kiel demnächst das vierte und letzte Sozialgericht des Bundeslandes ins Hartz-IV-Geschehen. Die Verfahrenszahl hat sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, ein Ende des Zuwachses ist nicht absehbar.

Besonders krass ist die Lage in Berlin. Das größte Sozialgericht Deutschlands trifft hier auf viele Arbeitslose und eine hohe Dichte von Interessengruppen, die Hartz-IV-Empfänger zu Klagen ermuntern und dabei unterstützen. Fälle werden hier mitunter im Halbstundentakt im Eilverfahren abgearbeitet; in diesem Jahr wurde in Berlin die 50.000. Klage zu den Akten genommen. Es gibt Querulanten, die aus politischem Protest, Spaß oder Langeweile mit aussichtslosen Verfahren die Gerichte blockieren. Hartz-IV-Empfänger haben bei Aussicht auf Erfolg Anspruch auf Prozesskostenhilfe, es entstehen ihnen keine Gerichtskosten. Der Gang zum Gericht ist also weitgehend ohne Risiko.

Von einem reinen Protestkläger-Phänomen zu sprechen ginge aber an der Wirklichkeit vorbei. Die Erfolgsquote von Hartz-IV-Verfahren ist hoch. Mehr als ein Drittel endet mit einem Erfolg oder Teilerfolg für die Kläger, an manchen Gerichten sind es sogar 50 Prozent. Ein Ansporn für die nächste Klagewelle vor den Sozialgerichten.

Kategorie: Globalnews | Aufrufe: 713 | Hinzugefügt von: regioblitz | Rating: 0.0/0 |
Kommentare insgesamt: 0
Nur registrierte Benutzer können Kommentare hinzufügen.
[ Registrieren | Login ]
Einloggen
Suche
Kalender
«  Oktober 2008  »
Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.
  12345
6789101112
13141516171819
20212223242526
2728293031
Archiv der Einträge
Freunde
Kostrov © 2024
Homepage Baukasten - uCoz