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Hauptseite » 2009 » März » 20 » Europas Führung fürchtet soziale Unruhen
Europas Führung fürchtet soziale Unruhen
14:38
Welt Online, 20.03.2009

Es brodelt in der Europäischen Union. Die Menschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Und sie sind wütend auf die Politiker. Die jedoch verstricken sich auf europäischer Ebene in technische Details. Weil es nicht vorwärts geht, wächst jetzt die Angst vor sozialen Unruhen. Die Protestwelle rollt bereits.

  

Donnerstagabend im Brüsseler Europaviertel. 26 Männer und eine Dame sitzen im achten Stockwerk eines braunen Betonbaus, Ober in schwarzer Livree servieren Filet und Rotwein. Am Tisch speisen die 27 Regierungschefs der Europäischen Union. Sie zanken um Kommas, sie streiten über den Unterschied zwischen „langfristigen“ und „kurzfristigen“ Konjunkturspritzen. Draußen, in Europa, tobt die schlimmste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, ist angespannt. Sie will an diesem Abend durchpauken, dass zig Millionen Euro aus einem Fünf-Milliarden Euro-Hilfspaket der EU-Kommission nicht in Energieprojekte, sondern in die Portemonnaies der deutschen Milchbauern fließen.

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Für Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker sind die deutschen Bauern weit weg. Er kämpft für den Finanzplatz Luxemburg und gegen „schwarze Listen“ der OECD. „Luxemburg ist kein Steuerparadies. Wir stehen nicht unter deutschem oder französischem Kommando, sondern tun das, was wir für richtig halten“, sagt er.

  

„Das ist doch alles Gewäsch und Kleinkram“, meint ein Brüsseler Spitzenbeamter. „Die EU veranstaltet einen Gipfel nach dem anderen, aber sie hat keine Strategie, die den Menschen und den Märkten Vertrauen gibt.“

  

Die EU erwartet in diesem Jahr 3,5 Millionen Arbeitslose mehr, im kommenden Jahr soll jeder zehnte der 225 Millionen Beschäftigten in Europa arbeitslos sein. Das ist jetzt überall zu lesen, das sagt jeder EU-Politiker in Interviews. Es sind kalte Zahlen, sehr exakt, aber sie beschreiben nicht, was das bedeutet für das Leben der Menschen.

 

In Brüssel geht die Angst um. Immer wieder haben hohe EU-Beamte in den vergangenen Wochen bei internen Diskussionen davor gewarnt, dass im Herbst „soziale Unruhen“ in Europa ausbrechen könnten. Besonders gefährdet: Irland, Großbritannien, Griechenland und einige osteuropäische Staaten. Die EU-Strategen rechnen damit, dass die Arbeitslosigkeit ab Mai hochschnellen wird – dann laufen viele Förderprogramme aus und etlichen Unternehmen fehlt langsam das Geld. „Ich fürchte eine soziale Krise, die vor allem durch Massenarbeitslosigkeit geprägt sein wird“, warnt Europas dienstältester Regierungschef Juncker. Und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso pflichtet bei: „Es wäre ein fundamentaler Fehler zu glauben, die EU müsse nur auf Finanzmarktregulierung achten.“

  

Auch die Gewerkschaften drängen zur Eile. „Ich fürchte, dass es in einigen Ländern schon bald zu erheblichen sozialen Verwerfungen kommt, wenn die EU-Staaten bei ihren Ausgaben nicht nachlegen und mehr Geld in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen investieren“, sagt Reiner Hoffmann, stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Die Gewerkschaften fordern höhere Ausgaben für Kurzarbeit und Umschulungen.

  

Und sie machen Druck. Anfang April, erzählt Hoffmann, werden in Rom rund eine Million Demonstranten erwartet, mindestens 200.000 Menschen werden Mitte Mai nach Brüssel kommen. „Sie wollen nicht die Opfer der Krise sein“, sagt Hoffmann.

 

Während die EU-Staats- und Regierungschefs gestern Abend noch am Rotwein nippen, wickeln 300 Kilometer südwestlich von Brüssel Hunderttausende ihre Plakate und Fahnen zusammen. Frankreich hat an diesem Donnerstag seinen zweiten Massenstreik binnen Jahresfrist gesehen. Ende Januar gingen 2,5 Millionen Menschen auf die Straße; jetzt sind es noch einmal Zehntausende mehr.

  

„Die Leute sind wirklich wütend“, sagte der Franzose Maurice Lévy, Chef von Publicis, eine der weltgrößten Werbeagenturen. Die Politiker hätten die Ängste der Menschen einfach weggewischt, statt ihnen ihre Maßnahmen zu erklären. Und im gleichen Atemzug Milliarden Euro den Banken hingeblättert, deren Manager obendrein Boni kassieren. „Wir stehen vor einem neuen Klassenkampf“, sagt Lévy der „Financial Times“.

  

Wie auch immer man das nennen mag, was seit Monaten unter und über der Oberfläche brodelt: Es erfasst ganz Europa. Begonnen hat das, was vielleicht im Verlauf des Krisenjahrs 2009 in Massenunruhen müden könnte, Anfang Dezember in Griechenland. Der Tod eines 15-jährigen Autonomen, den die Polizei in Athen erschoss, löste wochenlang gewalttätige Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und Sicherheitskräften aus. Sehr bald war klar, dass es um viel mehr ging als um die Wut über die Tötung eines jungen Mannes: um lang aufgestauten Frust. Über 24 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Über eine als korrupt angesehene politische Klasse. Über die ständig wachsenden Zahl illegaler Einwanderer.

 

Wie ein roter Faden zieht sich die Protestwelle durch Europa: Im Januar sah sich Bulgariens Regierung mit Massendemonstrationen und Straßenschlachten in Sofia konfrontiert. Auch hier schien der Auslöser ein externer, das fehlende Gas aus Russland. Doch hinter den Unruhen steckte die Wut auf Produktionseinbrüche, Entlassungen – und die Enttäuschung über gebrochene Versprechen von goldenen Marktwirtschaftszeiten.

  

Nicht anders ist die soziale Gemengelage in den Balkanstaaten oder im Baltikum. Zehntausende gingen in den vergangenen Wochen in Lettland und Litauen auf die Straßen, Ende Februar gab Lettlands Regierungskoalition angesichts der für sie nicht mehr lösbaren Probleme einfach auf: Von einem Wachstum von 3,4 Prozent 2008 wird ein Rückgang auf minus vier Prozent prognostiziert. In Litauen sollen es laut EU-Kommission minus 6,9 Prozent sein. Vielen osteuropäischen Staaten geht das Geld aus. Selbst in Großbritannien, wo das Wort Streik seit Jahren ein Fremdwort ist, protestierten jüngst Arbeiter gegen günstigere Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland. Die Erwerbslosigkeit liegt bei zwei Millionen, so hoch wie seit 1997 nicht mehr.

  

Aber die EU wartet ab. „Arbeitslosigkeit“ steht erst beim nächsten Sonder-Gipfel im Mai auf der Tagesordnung.

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