Winnenden (dpa) - Am Tag nach dem Amoklauf eines 17-Jährigen mit 16 Toten in Winnenden bei Stuttgart steht die Betreuung der Betroffenen im Mittelpunkt. Psychologen kümmern sich an diesem Donnerstag um die Angehörigen der Toten - und um die Schüler und Lehrer, die das Drama überlebt haben.
Auch viele Polizisten suchten nach dem Einsatz Hilfe. Während die Albertville-Realschule in Winnenden vorerst geschlossen bleibt, wollen die Lehrer an vielen anderen Schulen im Land mit ihren Schülern über das Geschehene sprechen und ihnen die Angst nehmen. Zahlreiche Bundesländer schicken Schul- und Polizeipsychologen nach Baden-Württemberg.
Neun Verletzte wurden in der Nacht zum Donnerstag noch im Krankenhaus behandelt. Wie die Polizei am frühen Morgen weiter mitteilte, befand sich keiner von ihnen in Lebensgefahr. Bei den Angeschossenen handele es sich um fünf Schüler, zwei Lehrer und zwei Polizisten. Was den 17-Jährigen, der die Schule im vergangenen Jahr nach dem Realschulabschluss verlassen hatte, zu der Bluttat bewegte, ist nach wie vor unklar.
Am Mittwochabend hatten hunderte Trauernde in der katholischen Kirche St. Karl Borromäus in Winnenden der Opfer des Amoklaufs gedacht. Auch viele Schüler der Albertville-Realschule nahmen an dem ökumenischen Gottesdienst teil. Immer wieder brachen Menschen zusammen und mussten von Sanitätern aus der Kirche gebracht werden. Zum Ende der Feier entzündeten Dutzende Trauergäste eine Kerze und legten sie unter dem Kreuz vor dem Altar der Kirche nieder. Vor der Albertville-Realschule versammelten sich in der Nacht Dutzende zu einer Mahnwache. Hunderte Kerzen erinnerten an die Opfer. Trauernde hatten Kuscheltiere, Porzellanfiguren, Frühlingsblumen und roten Rosen niedergelegt.
Nach diesen Erfahrungen könnten die Schüler nie wieder unbeschwert in ihre Schule zurückkehren, sagte der Psychologe und Trauma- Spezialist Christian Lüdke. In der in Hannover erscheinenden «Neuen Presse» forderte er deshalb die Schließung der Albertville-Schule. «Die Schule ist zum Tatort geworden. Dort darf kein Unterricht mehr stattfinden.» Schlimmstenfalls könnten Kinder sonst noch in einigen Wochen in das Trauma des Tat-Tages zurückversetzt werden. «Da hilft es auch nicht, wenn man die Wände streicht», sagte der Experte. Lüdke hatte 2002 nach dem Amoklauf am Erfurter Guttenberg-Gymnasium die Schüler betreut.
Allerdings sind sich Experten sicher, dass man solche Amokläufe nie mit Sicherheit verhindern kann. «Wir können uns um Außenseiter kümmern, um Jugendliche, die in Krisensituationen sind. Aber verhindern können wir Amokläufe nicht», sagte der Leiter des Kriminologischen Instituts in Hannover, Christian Pfeiffer, der «Wetzlarer Neuen Zeitung». Auch ein stärkerer Polizeischutz für Schulen bringe nichts. «Mehr Polizeipräsenz erhöht eher noch das Risiko von Amokläufen», sagte Pfeiffer. «Es könnte sein, dass die Schule für den Täter ein Ort der subjektiven Erniedrigung war.»
Der Psychologe Jens Hoffmann von der Technischen Universität Darmstadt glaubt, dass Amokläufe leicht Nachahmertaten hervorrufen können. Man müsse sehr viel aufmerksamer auf Warnsignale achten, die Schüler häufig lange vor Amoktaten aussendeten. «Jugendlich verraten viel stärker als Erwachsene ihre Pläne und kündigen die Tat am Ende oft auch an», sagte er der Deutschen Presse-Agentur dpa. «Die Schulen haben sich zu lange weggeduckt, aber das verändert sich glücklicherweise langsam.»
Tim K. war am Mittwochmorgen im schwarzen Kampfanzug und mit einer Pistole seines Vaters bewaffnet in seiner früheren Schule erschienen und hatte acht Mädchen und einen Jungen im Alter von 14 bis 15 Jahren getötet, die meisten von ihnen mit gezieltem Kopfschuss. Außerdem ermordete er drei Lehrerinnen. Auf der Flucht durch Winnenden erschoss er einen weiteren Menschen. Anschließend zwang der 17-Jährige einen Autofahrer, ihn mitzunehmen. Im 40 Kilometer entfernten Wendlingen konnte die Polizei den Amokläufer stoppen: Nachdem Tim K. in einem Autohaus noch zwei weitere Menschen getötet hatte, lieferte er sich einen Schusswechsel mit der Polizei. Dabei wurde er verletzt und nahm sich selbst das Leben.
Das Vorgehen des 17-Jährige war dabei sehr untypisch, sagte der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Rudolf Egg. Bei ähnlichen Amokläufen an Schulen hätten die Täter fast nie die Flucht ergriffen, sondern sich noch im Gebäude selbst getötet, sagte er im ZDF. Egg geht davon aus, dass Tim K. seine Tat zunächst sehr penibel geplant hatte. «Er hat sich vorgenommen, wann und in welcher Weise er in die Schule eindringt und die Menschen ermordet.» Dann habe er sich aber scheinbar extrem schnell zur Flucht entschlossen. «Und da scheint er mir völlig kopflos geworden zu sein. Da hat er nur noch wild um sich geschossen und hat wohl auch gemerkt: Es geht zu Ende, und es kommt auf gar nichts mehr an.»