Ein Bericht des Internationalen Roten Kreuzes über das US-Gefangenenlager Guantánamo übertrifft selbst schlimmste Befürchtungen: Häftlinge seien dort unter fachkundiger Anleitung von Ärzten misshandelt worden. Die Bush-Regierung habe schon vor zwei Jahren von den Vorgängen gewusst.
Der lange Zeit geheim gehaltene Bericht des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) über Verhörmethoden im US-Gefangenenlager Guantánamo sorgt weltweit für Aufsehen. Danach soll das CIA Ärzte angeheuert haben, um Verhöre unter Anwendung folterähnlicher Methoden zu überwachen, ja, um sie sogar aktiv zu unterstützen. Bei gewalttätigen und gezielt entwürdigenden Verhörmethoden wie Schlägen, Waterboarding, Schlafentzug, Unterkühlung oder sexueller Demütigung sollen die Mediziner zugeschaut und teils sogar mitgewirkt haben.
Das Rote Kreuz soll seinen Bericht bereits im Februar 2007 der US-Regierung übergeben haben – ohne auf die damalige Bush-Administration Eindruck gemacht zu haben. Jetzt hat das US-Magazin „New York Review of Books“ den Bericht in voller Länge veröffentlicht.
Treffen die Vorwürfe des Roten Kreuzes zu, handelt es sich um schwerste Verstöße gegen das ärztliche Ethos, das die Mediziner auf den Schutz der Gesundheit und die Heilung von Krankheiten verpflichtet. Erschreckend ist die Überschreitung der Tabugrenze: Wenn Ärzte ihr Wissen dazu hergeben, damit Menschen effektiver Schmerz und Schaden zugefügt werden kann, sei es körperlicher oder psychischer Art, ist das ein zivilisatorischer Dammbruch.
Das gilt unvermindert, wenn es sich bei den Opfern um gefährliche Top-Terroristen handelt. Ein demokratischer Staat, der sich von seinen schlimmsten Todfeinden zu einer Aufgabe humanitärer Minimalstandards hinreißen lässt, untergräbt sich und seine Rechtsordnung auf die Dauer selbst.
Die unter der Regierung Bush legalisierten verschärften Verhörmethoden – ob man sie offen als Folter oder als schweren Gefangenenmissbrauch bezeichnet, ist eher ein Spiel um Worte – sind inzwischen von Präsident Obama gestoppt worden. Ob es allerdings zu Anklagen gegen die Verantwortlichen dieser Verhörpraktiken kommt, womöglich bis hinauf in die höchsten politischen Ebenen, ist zu bezweifeln. Denn auch wenn Obama nicht mit ihnen identifiziert werden will und zu Recht Guantánamo schließen will, und zwar möglichst binnen eines Jahres – allzu enge gesetzliche Fesseln für den - wie von ihm angekündigten -, sogar noch verstärkten Kampf gegen den Terrorismus kann und wird auch er sich nicht anlegen lassen.
Guantánamo ist so sehr zu einem Negativsymbol amerikanischer Rechtsbeugung geworden, dass seine Fortführung diesem Antiterrorkampf mehr schaden als nutzen würde. Das Prinzip Guantánamo ist zudem aus grundsätzlichen Erwägungen unhaltbar, weil das Risiko, dass auch Unschuldige über lange Zeit ohne Anklage und Verteidigung in dem Lager verschwinden können, erwiesenermaßen zu hoch ist.
Doch selbst, wenn die Abwicklung von Guantánamo in dem von Obama anvisierten kurzen Zeitraum tatsächlich gelingen sollte, was wegen schwieriger juristischer Fragen fraglich ist (was soll mit eindeutig gefährlichen Top-Terroristen geschehen, gegen die kein ausreichendes konkretes Beweismaterial vorliegt, wohin sollen Häftlinge entlassen werden, deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist, oder die von ihren Heimatstaaten nicht mehr aufgenommen werden?) – das grundsätzliche Dilemma, das durch Guantánamo aufgeworfen wurde, wäre mit seinem Verschwinden nicht geklärt.
Es bleibt offen, wie juristisch mit irregulären Kombattanten verfahren werden soll, die bei Einsätzen von USA und Nato etwa in Afghanistan und im pakistanischen Grenzgebiet gefangen genommen werden – und wie Geheimdienste an dringend nötige Informationen über interne Strukturen und Planungen herankommen sollen, ohne dass sie beharrlich schweigenden Terroristen mit speziellen Verhörmethoden entlockt werden. Weltweit herrscht in diesem Punkt eine große Heuchelei: Auch europäische Geheimdienste stützen sich selbstverständlich auf Informationen, an die andere Dienste möglicherweise mit Hilfe von Folter gelangt sind.
Früher war es üblich, diese schmutzigen Praktiken gewissermaßen in Diktaturen oder Halbdiktaturen auszulagern, die keine rechtsstaatlichen Hemmungen haben – etwa nach Syrien oder Ägypten. Oder sie ohne Rechtsrahmen in streng geheimen CIA-Camps ablaufen zu lassen. Die Regierung Bush hat versucht, sie unter dem Eindruck des terroristischen Angriffs auf die USA vom 11. September in die Legalität zu holen und ihr Ausmaß und ihre Grenzen offen zu definieren. Es ist klar geworden, dass dieser Versuch mit den Selbstverständnis westlicher Demokratien unvereinbar ist. Eine andere, bessere Antwort auf das aufgeworfene Dilemma steht aber noch aus. Gegeben werden kann sie nicht von den USA allein.