Am Freitag, eine Woche nach den Morden, ist Korneel eingeäschert worden, in aller Stille, ohne Fotografen und Reporter. Er wurde nur neun Monate alt. Am gestrigen Samstag fanden die Beerdigungen der 54-jährigen Kindergärtnerin Marita Blindeman statt, und die von Leon. Er war ein halbes Jahr auf der Welt, als Kim D. ins „Fabeltjesland“, zu Deutsch Märchenland, von Dendermonde einbrach.
Kein einziges Wort hat Kim D. bisher geäußert gegenüber den drei Psychologen und den Kriminologen in seiner Untersuchungshaft in Brügge. Allein seinem Anwalt sagte der 20-Jährige, es tue ihm leid, was in Dendermonde passiert ist.
Aber er könne sich an das Geschehen in der Kita überhaupt nicht erinnern. Auch daran nicht, dass er an jenem Freitagmorgen mit dem Fahrrad nach Dendermonde fuhr, im Rucksack Messer und ein Beil. Auf einen Zettel hatte Kim die Adressen mehrerer Kitas geschrieben.
Am Tag nach dem Amoklauf titelten die belgischen Zeitungen „Kim D., das Rätsel“. Fassungslos stand das Land, das schon mehrfach brutalste Verbrechen an Kindern erlebt hat, vor diesem neuen Fall. Wie kann ein junger Mann schlafende Babys abstechen?
Zeugen berichteten, der Täter habe ein weiß geschminktes Gesicht gehabt mit schwarz ausgemalten Augenhöhlen – wie der „Joker“ im Film „Batman“. Die Polizei bestätigte nur, dass er bei seiner Festnahme in einem Supermarkt, in den er sich von der Kita aus flüchtete, Schminkzeug im Rucksack hatte. Die genaue Rekonstruktion des Tathergangs steht noch immer aus.
Darum begeben sich Belgiens Medien nun auf Spurensuche. Neben den Artikeln steht das Foto eines jungen Mannes mit weichen Gesichtszügen. Das dunkle, gewellte Haar reicht bis auf die Schultern, die vollen, beinahe femininen Lippen deuten ein Lächeln an.
Manche sagen nun, dass man die Katastrophe von Dendermonde hätte verhindern können. Denn Kim D. litt unter Schizophrenie. Ein Arzt stellte diese Diagnose bereits vor zwei Jahren – auf Bitten der Eltern, die sich immer mehr wegen des auffälligen Verhaltens ihres Sohnes sorgten, der sich völlig zurückzog und phasenweise nur noch per SMS kommunizierte.
Mit 18 Jahren begann er Stimmen zu hören, berichtet sein Anwalt. Die Eltern beobachteten, wie ihr Sohn in tiefe Depression verfiel. Doch als Kim in eine geschlossene Psychiatrie sollte, weil er für sich und andere eine Gefahr darstellen könnte, verweigerten die Eltern ihre Zustimmung.
Sie zogen einen anderen Experten heran. Der beurteilte das Verhalten des Jungen als Folge der Pubertät. Zwei weitere Psychologen begutachteten Kim – und kamen ebenfalls zu konträren Meinungen. Der Junge begann zwar eine ambulante Therapie, doch diese brach er schon wenig später wieder ab.
Aufgewachsen ist Kim D. mit zwei Schwestern als behütetes Kind einer gut situierten Familie im Dorf Eksaarde im Osten Flanderns. Schon in der Schule galt er als Sonderling, weil er meist schwieg. Seine Klassenkameraden beschrieben ihn als intelligent, aber sehr introvertiert.
Er liebte wie viele berühmt gewordene Amokläufer „Gothic“, eine dunkle Spielart der Punk- und Wave-Musik, deren Texte sich um Tod und Vergänglichkeit drehen. Kim D. soll nach der Schule zunächst eine Ausbildung zum pharmazeutisch-technischen Assistenten gemacht, später dann in einem Baumarkt gejobbt haben. Auch dort blieb er allein, wenn die Kollegen mittags gemeinsam aßen.
Das letzte Weihnachtsfest und Sylvester verbrachte der junge Mann allein in seiner neuen Wohnung, in der er seit Oktober lebte. Sie liegt in Sinaai, zwölf Kilometer entfernt von Dendermonde. Bei der Miete von 650 Euro halfen Kims Eltern. Vielleicht glaubten sie, dass ein selbstständigeres Leben Kim helfen würde?
Doch die unzähligen einsamen Stunden, über die man nur mutmaßen kann, wie Kim D. sie verbrachte, katapultierten ihn offenbar in immer weiter entfernte Sphären. Schon eine Woche vor seiner Bluttat in der Kinderkrippe soll er eine 73-jährige Frau im ostflämischen Beveren erstochen haben.
Und schließlich setzte er sich an jenem Freitagmorgen vor einer Woche auf sein Fahrrad, fuhr nach Dendermonde in den Stadtteil Sint-Gillis, vorbei an einem Hügel bis zu dem eingeschossigen Holz-Beton-Bau mit den orangefarbenen Wänden, in dem sich das „Märchenland“ befindet. Dort wütete er mit unglaublicher Gewalt, stach auf die Kleinsten ein und auf alle, die sich ihm in den Weg stellten.
Ignace Demeyer war einer der Ersten, die in der Kita ankamen. Der 50-jährige Anästhesist orderte schnell fünf Rettungsteams nach Sint-Gillis. Demeyer arbeitet seit Jahrzehnten im Notdienst, „aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Überall war Blut. Wie in einem Horrorfilm.“
Neben den drei Todesopfern zählte die Polizei am Ende zehn schwer verletzte Kinder und zwei Betreuerinnen. „Unfälle gehen oft auf technisches Versagen zurück. Selbst Kriege haben irgendwie einen Grund, Feind gegen Feind. Das ist von Menschen gemacht“, sagt Demeyer. „Aber das hier waren Kinder, das waren schlafende Kinder.“
Am Eingang der Kita hängt noch immer ein Zettel: „Bitte schellen und in die Kamera schauen. Wir kommen sofort. Das ist für die Sicherheit unserer kleinen Augäpfel.“ Kim D. nahm den Seiteneingang.